Vorab bemerkt
Perestroika und Ende der Sowjetunion liegen inzwischen mehr als ein Jahrzehnt zurück. Viel hat sich verändert in Russland und seinen ehemaligen Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten. Demokratie (wenn auch meist auf besondere Art), Marktwirtschaft und (Ideologie-)Freiheit der Wissenschaft sind nur einige Stichworte. Aber wie steht es heute um die "Industriekultur" nach unserem Verständnis? Zwar beginnt so manche Fernsehreportage mit dem Standardsatz "Eigentlich ist dieser Betrieb ein erstrangiges Industriedenkmal...", aber im Vordergrund stehen - sicher zu Recht - in der Regel die Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Strukturwandels und Neuanfangs mit all seinen Begleiterscheinungen, wie Verarmung von ganzen Regionen und Millionen von Menschen. Wurde in der ehemaligen DDR der Zusammenbruch durch den Westen gelenkt und "abgefedert", entließ die ehemalige Sowjetunion oft in völlige Perspektivlosigkeit. Aber auch was gerettet erscheint, könnte unversehens noch zum Problem werden; so verweisen jüngste Meldungen über starke Schäden an manchen Moskauer Metrolinien darauf, dass etwa der Niedergang wichtiger Infrastruktureinrichtungen erst verzögert deutlich wird. Niemand weiß, wie die hier anstehenden Investitionen finanziert werden sollen, und so lebt man in vielen Bereichen derzeit von der Substanz. Dass angesichts dieser Lage die Definition von und Beschäftigung mit Industriedenkmalen von den Betroffenen oft als abwegig und rein "westlich" gedacht betrachtet wird, ist verständlich. Die offizielle Denkmalpflege konzentriert sich überwiegend auf Architekturdenkmale und erweckt damit den Eindruck, ein vorrevolutionäres und anti-industrielles Geschichts- und Kulturideal zu verfolgen. Dass dies nicht immer und überall so ist, sollen die hier zusammengestellten Beiträge von russischen bzw. in Russland lebenden Autoren zeigen. Sie belegen den vielfältigen industriekulturellen Reichtum dieses Landes, die faszinierende Geschichte, die oft auch in Details sichtbar wird, aber auch die besonderen Strukturen und Traditionen und damit die Notwendigkeit, eigene Wege zu gehen und sich in Geduld zu üben.
Trotz der Beschränkung auf das Gebiet der heutigen Russischen Föderation, was gegenüber der Sowjetunion und dem Zarenreich wichtige Industriestandorte etwa in der Ukraine, im Baltikum und im Kaukasus ausschließt (die späteren Heften vorbehalten bleiben sollen), wird deutlich, wie wenig wir noch über dieses industrielle Erbe wissen, das von ganzen vor- und frühindustriellen Zentren über lange vernachlässigte zaristische Entwicklungen und die Industrialisierungsschritte der Sowjetzeit bis zur Atom- und Weltraumfahrt reicht. Die über alle Systemwechsel hinweg vielfältigen und spannenden deutsch-russischen Beziehungen in den Bereichen Wirtschaft, Technik und Wissenschaft bieten zahllose interessante industriekulturelle Themen. Spannende Exkursionen bzw. Expeditionen werde noch lange möglich sein in dieses Land, das sich nicht auf Anhieb erschließt und bereisen lässt.
Unser langjähriger Korrespondent Alexander Kierdorf, der aus privaten Gründen mehrere Jahre in Moskau verbrachte, hat dieses ungewöhnliche Heft dank vieler persönlicher Beziehungen und mit nicht geringer Mühe vorbereitet; ihm gilt der herzliche Dank der Redaktion! Zugleich möchte er sich an dieser Stelle noch einmal bei allen russischen Kollegen, Rat- und Leihgebern, besonders natürlich den Autoren, bedanken. Zusammen mit der Redaktion wünscht er ihnen, die sich mit wenigen Gleichgesinnten und gegen vielfältige Widerstände für die Erforschung und den Erhalt des industriekulturellen Erbes einsetzen, weiterhin viel Mut, Kraft und zunehmenden Erfolg.
Die Redaktion
industrie-kultur. Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte 2/2004, 27. Heft ISSN 0949-3751
Inhaltsverzeichnis:
S. 1 Vorab bemerkt/Editorial
S. 2-5 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Margarita Stieglitz: Umnutzung historischer Industriekomplexe in St. Petersburg. Ein Überblick zur aktuellen Situation
S. 6-7 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Sergej Doroshkow: Aus Liebe zum Kuckuck - Das Schmalspur-Eisenbahnmuseum bei Pereslawl. Lebendige Industriekultur durch privates Engagement
S. 8-11 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Alexander Kierdorf: Vom Hüttenreich der Demidoffs über den Mythos zum Nationalpark. Russlands industriegeschichtliche Schatzkammer Ural
S. 12-13 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Bildimpressionen: Industriekultur in Russland
S. 14-15 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Alexander Kierdorf: Künstlerporträt: Wladimir Archipow
S. 16-17 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Alexander Kierdorf: Ein industriekultureller Streifzug durch Moskauer Museen
S. 18-20 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Grigorij Tscherkassow: Umprofilierung: Ehemalige Industriekomplexe in und um Moskau. Möglichkeiten der städtebaulichen Verbesserung und Umnutzung
S. 21 SCHWERPUNKTTHEMA Russland Arbeit in einem schwierigen Umfeld Interview mit Dr. Margarita Sergejewna Stieglitz
S. 22-23 NEUE INDUSTRIEDENKMALE Matthias Baxmann: Neues Industriedenkmal in Brandenburg. Patentpapierfabrik in Hohenofen, Landkreis Ostprignitz-Ruppin
S. 24-25 SELBST VORGESTELLT Anne Roerkohl: Technologietransfer - Protestantische Ethik - Massenelend Museum für Frühindustrialisierung Wuppertal
S. 26-27 SCHWEDEN Eva Kistemann: Schwedens Industrie-Denkmal 2003 Kalkseilbahn Forsby - Köping
S. 28-32 SCHIFFS-HEBEWERKE Eckhard Schinkel: Schiffs-Hebewerke in China - Teil II: Aktueller Überblick
S. 33 DAS HISTORISCHE FOTO Alexander Kierdorf: Sergej Prokudin-Gorskij - Pionier der russischen Farbfotografie
S. 34-37 AUS DER ARBEIT VON RIM UND WIM Thomas Parent: Das darf doch nicht wahr sein! Jubiläumsjahr 2004
S. 38 AUS DER ARBEIT VON RIM UND WIM Gregor Isenbort: Schneid' schon mal die Torte an! RIM und WIM feiern Geburtstag
S. 39 AUS DER ARBEIT VON RIM UND WIM Eckhard Schinkel: Bergbau- und Kanal-Landschaft Ruhrgebiet Zwei Ausstellungen mit Gemälden von Hermann Bertelt (Herne)
S. 40-46 INDUSTRIEKULTUR IN DEN REGIONEN
S. 47-48 LESEZEICHEN Rezensionen
S. 49 TERMINE
als Beihefter DIE HISTORISCHE ANZEIGE Alexander Kierdorf: Hinweg, Küchen-Sklaverei!